Die Zeit der Zigeuner

Dom za vešanje

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Murillo
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Die Zeit der Zigeuner

Beitrag von Murillo »

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Die Zeit der Zigeuner (Dom za vešanje)

Jugoslawien/Italien/UK 1988
Regie: Emir Kusturica
Darsteller: Davor Dujmovic, Bora Todorovic, Ljubica Adzovic, Sinolicka Trpkova, Elvira Sali

Handlung: Sarajevo in den 80er Jahren: Der junge Perhan (Davor Dujmovic) wächst unter bescheidenen Bedingungen mit seiner Großmutter und seinen Geschwistern in einer heruntergekommenen Vorstadtsiedlung auf. Er beginnt eine Affäre mit der gleichaltrigen Azra (Sinolicka Trpkova) und hält um ihre Hand an, kann jedoch deren Mutter nicht ausreichend von sich und seinen Zukunftsaussichten überzeugen. Nachdem Perhans Großmutter (Ljubica Adzovic) mit ihren übernatürlichen Kräften das Leben des Sohnes von Gansterboss Ahmed (Bora Todorovic) gerettet hat, möchte sich dieser revanchieren. Daher bringt er Perhans kranke Schwester Danira (Elvira Sali) in das Krankenhaus von Ljubljana und nimmt bei dieser Gelegenheit auch Perhan mit nach Italien, um diesem eine lukrative Beschäftigung im Bereich der organisierten Kriminalität zu ermöglichen. Der schüchterne Perhan steigt schon bald darauf in der Bandenhierarchie auf und findet Gefallen an seinem neuen Leben in Luxus und Dekadenz, sehr zum Entsetzen seiner Großmutter...


Nachdem ich mittlerweile schon so einige Filme aus dem ehemaligen Jugoslawien und auch von Kusturica gesehen habe, muss ich zugestehen, dass ich eigentlich insgeheim vermutete, mich würde kaum noch etwas so wahnsinnig überraschen und begeistern. Dass "Wer singt denn da?" und "Underground", oder auch "Dörfer in Flammen" schon so ziemlich das Nonplusultra aus dem Bereich sei. Dass diese unglaubliche Flut an monumentalen Meisterwerken, die einem über Jahre hinweg verborgen geblieben sind doch irgendwann einmal enden müsse. Dass so eine relativ überschaubare regionale Filmindustrie doch nicht einfach unendlich viele großartige Filme hervorbringen könne. Was glauben die, wer sie sind, Dänemark?
Und dann kommt dieser Kusturica mit seiner Blaskapelle um die Ecke, zieht Dir von hinten den Stuhl weg und tritt Dir noch einmal so richtig in die Fresse! Die Ignoranz und Unwissenheit des inzwischen vollgefressenen Möchtegern-Cineasten sind um ein weiteres mal sensationell bloßgestellt worden. Ich hatte Unrecht und werde nie wieder den Fehler machen, Kusturica (wenn auch nur heimlich) zu unterschätzen. Der Mann ist ein absolutes cineastisches Genie und seine Werke gehören dementsprechend mit den höchsten Würden ausgezeichnet und zelebriert.

So auch in diesem Fall. Dieser Film ist ein bisschen wie eine Schachtel Pralinen. Ich hatte eigentlich überhaupt keine Ahnung, was mich erwartet. Aber jedes einzelne Stück war einfach unglaublich köstlich.
Zwar sehen wir auch hier wieder den Blaskapellen-Overkill, wie in Kusturicas anderen Filmen. Aber der Soundtrack geht in seiner Variabilität weit darüber hinaus und ist in diesem Fall unglaublich abwechslungsreich und herausragend ausgewählt.
Zwar sind die Charaktere mal wieder ziemlich überzeichnet, aber gleichzeitig zeigen sie auch viel Tiefe und man kann sich teilweise sehr gut mit ihnen identifizieren.
Der Film hat stille und geheimnisvolle Momente, die sehr zum Nachdenken anregen.
Er hat aber auch sehr opulente und rauschhafte Momente, in denen alltägliche Szenen, wie Hochzeiten (offenbar ein immer wiederkehrendes Thema bei Kusturica), Beerdigungen und Messerkämpfe wie monumentale religiöse Rituale zelebriert werden.
Bei einigen Szenen fühlte ich mich visuell und atmosphärisch an "Es war einmal in Amerika" und auch an "Apocalypse Now" erinnert.
Das ganze wurde mit Laiendarstellern umgesetzt, die zu diesem Zeitpunkt vollkommen unbekannt waren, die aber teilweise durch diesen Film ihren Weg in die Filmindustrie geschafft haben.

Insgesamt ist dies ein wirklich großartiges Meisterwerk, welches ich Euch mit allen Fanfaren und Trompeten ans Herz legen möchte.

Fazit: Ein bildgewaltiges und überaus beeindruckendes Epos, welches den geneigten Zuschauer sprachlos zurücklässt.


"Wenn etwas klappt, ist es meistens nur Glück. Deshalb sollte man nie zuviel Ahnung von einer Sache haben" (alte japanische Programmiererweisheit)

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Detlef P.
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Re: Die Zeit der Zigeuner

Beitrag von Detlef P. »

Ich kenne diesen Film leider nicht, da "Underground" bisher mein einziger Kusturica ist.
Aber mich würde mal interessieren, welchen von beiden Du besser fandest.


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"Der größte Feind des Wissens ist nicht Unwissenheit, sondern die Illusion, wissend zu sein." (Daniel J. Boorstin)

Wenn "2010" die Fortsetzung zu "2001" sein soll, dann ist "Sieben" das Prequel zu "8½". (Ich)

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Murillo
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Re: Die Zeit der Zigeuner

Beitrag von Murillo »

Schwierig zu sagen. Beide sind auf ihre Weise absolut genial.
Ich glaube, da muss ich erst einmal ein paar Wochen drüber nachdenken.
Anschließend schreibe ich es dann hier. :smile:


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Re: Die Zeit der Zigeuner

Beitrag von Murillo »

Murillo hat geschrieben: Mi 14. Apr 2021, 15:49 Schwierig zu sagen. Beide sind auf ihre Weise absolut genial.
Ich glaube, da muss ich erst einmal ein paar Wochen drüber nachdenken.
Anschließend schreibe ich es dann hier. :smile:
Ich in die Sache analytisch angegangen und habe mir infolge dessen doch schon früher eine Meinung gebildet.
Die Auflösung findet Ihr in Kürze im Emir Kusturica Thread.
*trommelwirbel*


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Re: Die Zeit der Zigeuner

Beitrag von Detlef P. »

Die Spannung ist nahezu greifbar... :cityofgod: :winkie:


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