Detlefs "The Painted Bird"

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Moderator: Damien3

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Detlef P.
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Detlefs "The Painted Bird"

Beitrag von Detlef P. »

Mittlerweile ist es fast schon drei Wochen her, dass ich diesen Film im B-Ware (indem übrigens damals auch die erste Staffel "SchleFaZ" gedreht wurde :huld: ), meinem liebsten Berliner Arthaus-Kino, sah.
Wenn mich jemand an diesem Abend mit der Kamera begleitet hätte, um zu dokumentieren, was da alles genau passiert ist, welchen Film ich mir angesehen habe und was für ein Kino das genau war, hätte das vermutlich sehr ähnlich ausgesehen, wie in diesem Clip:



Der Film war auch tatsächlich ganz, ganz nah dran an diesem Arthausfilm-Klischee, dass wir früher hier im Forum schon ein- oder zweimal genannt haben:
Detlef P. hat geschrieben: Sa 8. Mär 2014, 13:16 Ach, Du nichtswissender Töpferkurs-Kunstfuzzi!
Geht doch wieder in Deine Arthaus-Kinos und guckt Dir 3 stündige-Dogma-Schwarzweiß-Stummfilme über das Schicksal minderjähriger, iranischer Milchreisbauern auf rumänisch mit usbekischen Untertiteln an und überlass die bombastischen Comic-Verfilmungen echten Kennern und Liebhabern. :lach: :lach: :lach: :fuckU: :fuckU: :fuckU:
1. Der Film geht wirklich (fast) drei Stunden.
2. Er ist komplett in Schwarzweiß.
3. Zwar ist es kein Stummfilm, aber es wird doch deutlich weniger, als in anderen Filmen, gesprochen.
4. Wenn gesprochen wird, ist es tatsächlich tschechisch oder "interslawisch", eine Sprache, die konkret für diesen Film aus allen slawischen Sprachen kreiert wurde, damit eine genaue Lokalisierung der Ereignisse nicht möglich ist - und das alles gibt es ausschließlich untertitelt.
5. Es geht zwar nicht um einen iranischen, aber dafür um einen osteuropäischen Jungen und dessen Schicksal während des zweiten Weltkrieges.

Hammer, oder?
Und nein, ich habe mir das gerade nicht ausgedacht und diesen Film gibt es wirklich :cityofgod:

Zum Kino selbst kann ich sagen, dass draußen am Gebäude groß dransteht "Dies ist kein Kino", obwohl es doch eines ist - und irgendwo auch wieder nicht :mrgreen:
Offiziell ist es, glaube ich, eine Videothek. Es gibt aber auch drei Leinwände, auf denen Filme gezeigt werden. Wenn man eine Karte gekauft hat, sitzt man vorne in einem Wartebereich, der ein bisschen wie eine Café-Lounge aussieht.
Fängt der Film an, geht der Kassierer durch den Wartebereich und sagt: "Für "Film XY" ist jetzt Einlass." Dann darf man rein.

An diesem Tag war ich in dem deutlich kleinsten Saal, der nur etwas größer ist, als der Heimkino-Raum, den mein Onkel früher hatte.
Es gibt nur vier Sitzreihen und ganz vorne vor der Leinwand steht quasi als fünfte Reihe ein altes Sofa :bang:
Die Leinwand ist auch dementsprechend in keiner Weise mit Leinwänden in einem Multiplex zu vergleichen.
Wir waren insgesamt zu fünft. Also erst zu viert und dann zu fünft und dann wieder zu viert, aber da komme ich gleich noch drauf... .

Erstmal zum Film:
Man könnte ihn tatsächlich am besten als eine Arthaus-Variante von Spielbergs "Gefährten" beschreiben, nur mit den zwei erheblichen Unterschieden, dass das Pferd gegen einen kleinen Jungen ausgetauscht wurde, dem wir durch die Wirren des Krieges folgen und dass der Film nicht so kitschig anmutet, wie bei Spielberg halt üblich, sondern eher so wirkt, als hätten Roman Polanski und Lars von Trier den Film als Gemeinschaftsprojekt gemacht.
Die Story ist übrigens eine Buchverfilmung von dem gleichnamigen autobiografischen Roman des polnischen Schriftstellers Jerzy Kosinski, der das Buch bereits in den 60er Jahren schrieb, welches dann zum absoluten Referenzwerk im Bereich der Holocaust-Literatur avancieren sollte.
Später stellte sich jedoch heraus, dass Jerzy Kosinski die Geschichten alle erfunden und gar nicht selbst erlebt hatte, was dann doch einen kleinen Skandal auslöste :mrgreen:
Vermutlich wurde deswegen auch so lange gewartet, um das Buch zu verfilmen.

Im Film selbst gibt es dementsprechend auch einige wirklich krass brutale Szenen, wobei diese an einigen Stellen schon so überzeichnet sind, dass man sich fragt, ob das überhaupt noch ernst gemeint ist oder ob es sich hier um eine satirische Überzeichnung handeln soll.
Zum Beispiel wird der Junge namens Joska an einer Stelle Zeuge wie
Spoiler
ein Farmer seinem Angestellten mit einem Löffel die Augen aus den Höhlen rauslöffelt, weil der dessen Frau ständig lüstern anstarrt. Joska geht dann am nächsten Tag heimlich fort, sammelt jedoch noch die rausgelöffelten Augen vom Boden auf und gibt sie ihrem Besitzer, der heulend (wie auch immer das ohne Augen geht) ein paar Meter weiter am Wegesrand sitzt, zurück, damit der sie als Andenken behalten kann... oder so?
Solche Szenen sind schon extrem bizarr und man kann, wie gesagt, in solchen Momenten nur schwer ernst dabei bleiben.

Daneben gibt es auch wirklich heftige Szenen, die unter die Haut gehen. Aber häufig ist der Film schon sehr übertrieben brutal und die Menschen, die Joska auf seinem Weg trifft sind irgendwie fast alle absolut scheiße und einfach extrem übertrieben unmenschlich.
Ach so, mit Nazis oder SS-Soldaten kommt er tatsächlich fast gar nicht in Berührung, was ich echt überraschend fand. Vor allem bei so einer Lauflänge von fast drei Stunden die Wehrmacht so gut wie rauszulassen, war schon sehr ungewöhnlich, aber durchaus erfrischend.

Der Film ist auch, obwohl er nach einem totalen Kunstfuzzi-Klischeefilm klingt, in keiner Sekunde langweilig, sondern immer interessant und spannend gemacht, sodass man sich fragt, was Joska noch alles auf seiner ultimativen Horror-Odyssee sehen, erleben und zustoßen wird.
Und, oh Mann, davon ist immer genug da.
Der Film ist auch hervorragend gemacht und gespielt und hat eine unglaublich gute Atmosphäre und wirklich aufwändige Sets. Der erfahrene, fast 80-jährige Vladimír Smutný, der bereits den Auslandoscar-Gewinner "Kolja" von 1996 bebilderte, leistet an der Kamera hervorragende Arbeit und schafft klare, kinoreife Bilder im eleganten schwarzweiß.
Und es spielen überraschenderweise auch noch richtige Stars in diesem Film mit. Es sind in Nebenrollen tatsächlich Udo Kier, Stellan Skarsgard, Harvey Keitel, Julian Sands und Barry Pepper dabei.
Witzigerweise spielt Pepper hier schon wieder einen Sniperschützen - genau wie in "Der Soldat James Ryan" - nur dieses Mal für die russische Armee.
Und, wer darf in so einem Film mit so einer Handlung absolut nicht fehlen? Richtig: Aleksey Kravchenko, der Mitte der 80er Jahre die Hauptrolle in dem Klassiker "Geh und sieh" gespielt hat und in diesem Film als russischer Befehlshaber auftritt, der sich gegen Ende schützend um Joska kümmert.
Wow, was für ein Hammer!

So, und wie versprochen noch kurz zu den Leuten im Publikum.
Von den zwei Typen, die schräg vor mir saßen, hat der eine tatsächlich immer bei den krassen Gewaltszenen weggeguckt. Und zwar die ganze Zeit.
Fand ich irgendwie witzig, da man das dem Typ so gar nicht angesehen hätte.
Den Vogel schoss aber der fünfte Besucher ab, den ich eingangs schon erwähnt hatte.
Erstmal kam er 15 Minuten zu spät und setzte sich dann vorne auf das Sofa.
Dann klingelte fünf Minuten später sein Handy und er ging ran(!) und ging dann direkt wieder raus um eine halbe Stunde oder so zu telefonieren.
Dann kam er wieder rein und setzte sich wieder hin und hat dann während des Films mehrfach super laut geniest und gehustet. Bei ersten Mal dachte ich, das wäre im Film gewesen, so laut war das.
Ich hatte schon damit gerechnet, dass der ganze Saal ab dem kommenden Tag in Quarantäne müsste :lach:
Allerdings verließ der freundliche Herr den Saal etwa 30 Minuten vor Schluss auch schon wieder - und diesmal endgültig - als im Film
Spoiler
eine junge Frau vor Joskas Augen Sex mit einer Ziege simulierte.
Da war's für den Typ wohl ganz vorbei :lach:

Alles in allem ein rundum gelungener Kinoabend :daumen2:


"Willst Du etwas wissen, so frage einen Erfahrenen und keinen Gelehrten." (chin. Sprichwort)

"Die Seele ist das Schiff, Vernunft das Steuer und Wahrheit der Hafen." (türk. Weisheit)

"Der größte Feind des Wissens ist nicht Unwissenheit, sondern die Illusion, wissend zu sein." (Daniel J. Boorstin)

Wenn "2010" die Fortsetzung zu "2001" sein soll, dann ist "Sieben" das Prequel zu "8½". (Ich)

Las-Vegas-Ambiente :fuckU: (Insider)
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