Der Himmel über Murillo

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Moderator: Damien3

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Murillo
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Der Himmel über Murillo

Beitrag von Murillo »

Der Himmel über Berlin

Da ich bisher nur den Kuba-Wim kannte, hielt ich es für notwendig, mir zumindest noch diesen Wenders-Film anzuschauen, der ja im allgemeinen als einer seiner besten gilt. Ich hätte ihn fast verpasst, da ich die TV-Termine durcheinandergebracht hatte, jedoch habe ich ihn dann durch Zufall doch noch gesehen.
Kaum zu glauben, was ich verpasst hätte....

Bruno Ganz und Otto Sander stellen physich abwesende Gestalten dar, die die Gedanken der lebenden Menschen lesen und diese beeinflussen können. Hierdrin besteht der Sinn ihres Dasein.
Bei ersterem führt die Sehnsucht nach menschlicher Nähe und Umwelteinflüssen, die sie entbehren müssen, jedoch dazu, dass er ein Mensch werden will.......
Soviel zum Inhalt, mehr werde ich auch nicht verraten.

Ich hatte eigentlich etwas anderes erwartet: Diesen dokumentarischen Handkamerastil, den ich noch von "Buena Vista Social Club" gewohnt war. Was ich dann aber zu sehen bekam, hat meine hohen Erwartungen durchaus erfüllt. Alleine die Szene am Anfang im Flugzeug ist absolut genial. Die absoluten Höhepunkte des Films waren dann jedoch der alte Mann (Curt Bois, der zu diesem Zeitpunkt berits 80 Jahre im Filmgeschäft tätig war) und wie er in Gedanken den alten Potsdamer Platz beschreibt, sowie der Selbstmörder auf dem Dach des Hochhauses.
Diese ruhigen Kameraeinstellungen in sterilen, hässlichen, aber zugleich schönen Gegenden vermitteln eine ganz besondere, irgendwie bedrückende Atmosphäre, wobei diese durch die hörbar gemachten primitiven, alltäglichen, existenziellen Gedanken der beobachteten Menschen noch intensiviert wird.

Bruno Ganz ist wohl die Idealbesetzung für die Rolle, bzw. die beiden Rollen, die er hier spielt, sein Charisma ist wirklich gewaltig.
Außerdem war ich überrascht, Peter Falk in diesem Film zu sehen. Auf seine "Columbo"-Vergangenheit wurde in einigen Szenen sogar mit kleinen Gags angespielt.

Insgesamt ein sehr gelungener Film, der vor allem stilistisch jede Menge zu bieten hat.


"Wenn etwas klappt, ist es meistens nur Glück. Deshalb sollte man nie zuviel Ahnung von einer Sache haben" (alte japanische Programmiererweisheit)

Neulich im Waschsalon:
"Nachdem mir bereits "Network" sehr gut gefallen hat, gewinne ich langsam wirklich Respekt vor Sidney Lumet."
"Du unnützer nichtsbringender mittzwanziger Fliegenschiss bekommst "langsam" Respekt vor Sidney Lumet?"
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Nikkita
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Beitrag von Nikkita »

Da gebe ich dir vollkommen Recht, einer der besten W. Wenders Film überhaupt. Ein Film der an den Zuschauer appeliert sich dem Wunder der kleinen Ding zu öffnen. Und du hast auch vollkommen Recht bezüglich der Kameraeinstellungen, die einen großen Teil der Wirkung des Filmes ausmacht. Fast schwerelos kommen manchmal die Bilder dem Zuschauer vor.

Wirklich eine Schande wie Hollywood diesen Film in "Stadt der Engel" verunstaltet hat. Das Remake kann dem Orginal nicht im Geringsten das Wasser reichen. Meiner Meinung nach grenzt das Remake schon an eine Beleidigung des Orginals.

Hier der Text des Liedes aus dem Film, den ich völlig bezeichnend für den Film finde:

PETER HANDKE, "LIED VOM KINDSEIN"

1. Strophe

Als das Kind Kind war,
ging es mit hängenden Armen,
wollte, der Bach sei ein Fluß, der Fluß sei ein Strom,
und die Pfütze das Meer.
Als das Kind Kind war, wußte es nicht,
daß es Kind war,
alles war ihm beseelt, und alle Seelen waren eins.
Sah den Horizont, ohne sich hinzuflüchten,
konnte sich nicht beeilen,
und nicht auf Befehl und auch nicht vorsätzlich denken.
Als das Kind Kind war,
hatte es von nichts eine Meinung,
hatte keine Gewohnheit,
saß oft im Schneidersitz, lief aus dem Stand,
hatte einen Wirbel im Haar
und machte kein Gesicht beim Photographieren.

2. Strophe

Als das Kind Kind war, war das die Zeit der folgenden Fragen:
Warum bin ich ich, und warum nicht du?
Warum bin ich hier, und warum nicht dort?
Wann begann die Zeit. und wo endet der Raum?
Ist das Leben unter der Sonne nicht bloß ein Traum?
Ist, was ich sehe und höre und rieche,
nicht bloß der Schein einer Welt vor der Welt?
Gibt es tatsächlich das Böse, und Leute,
die wirklich die Bösen sind?
Wie kann es sein, daß ich, der Ich bin,
bevor ich wurde, nicht war,
und daß einmal ich, der Ich bin,
nicht mehr Der-ich-bin sein werde?

3. Strophe

Als das Kind Kind war,
würgte es am Spinat, an den Erbsen, am Milchreis
und am gedünsteten Blumenkohl,
und ißt jetzt das alles, und nicht nur zur Not.
Als das Kind Kind war,
erwachte es einmal in einem fremden Bett,
und jetzt immer wieder,
erschienen ihm viele der Menschen schön,
und jetzt nur noch im Glücksfall,
stellte es sich klar ein Paradies vor,
und kann es jetzt höchstens ahnen,
konnte es sich ein Nichts nicht denken,
und schaudert heute davor.
Als das Kind Kind war,
spielte es mit Begeisterung,
und jetzt so ganz bei der Sache wie damals
nur noch, wenn diese Sache seine Arbeit ist.
(http://www.bonnerkinemathek.de)


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Detlef P.
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Re: Der Himmel über Murillo

Beitrag von Detlef P. »

Murillo hat geschrieben:Ich hätte ihn fast verpasst, da ich die TV-Termine durcheinandergebracht hatte, jedoch habe ich ihn dann durch Zufall doch noch gesehen.
Jaja, durch "Zufall"!
Wenn ich nicht gewesen wäre... :mrgreen:
Ich habe den Film aufgezeichnet und werde ihn mir heute endlich ansehen. Ich bin sehr gespannt.


"Willst Du etwas wissen, so frage einen Erfahrenen und keinen Gelehrten." (chin. Sprichwort)

"Die Seele ist das Schiff, Vernunft das Steuer und Wahrheit der Hafen." (türk. Weisheit)

"Der größte Feind des Wissens ist nicht Unwissenheit, sondern die Illusion, wissend zu sein." (Daniel J. Boorstin)

Wenn "2010" die Fortsetzung zu "2001" sein soll, dann ist "Sieben" das Prequel zu "8½". (Ich)

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Detlef P.
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Beitrag von Detlef P. »

So, gestern endlich gesehen muss ich sagen, dass er ganz anders war als ich mir vorgestellt habe.
Der Film hat mich an vielen Stellen tatsächlich an Tarkowskijs "Der Spiegel" erinnert.
Berde Filme kann man sowohl auf politische als auch auf persönliche oder menschliche Art und Weise interpretieren.
Bruno Ganz hat ganz(!) besonders hervorgestochen mit seiner zurückhaltenden und fast kindlichen Art hat er einiges in diesem Film gerissen.
Insgesamt gesehen ein sehr leiser aber durchaus faszinierender Film.
Bin mal gespannt, was mich noch so von Wim Wenders erwartet


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