Interview mit Greg Marcks im Spiegel

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Murillo
die graue Eminenz
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Interview mit Greg Marcks im Spiegel

Beitrag von Murillo »

"Man muss über das Unglück lachen"

Der amerikanische Jungregisseur und Drehbuchautor Greg Marcks hat eine vielfach preisgekrönte Kurzfilm-Karriere hinter sich und gibt mit dem Thriller "11:14" sein Kinodebüt. Mit SPIEGEL ONLINE sprach der Newcomer über Hollywood-Poker, abgetrennte Geschlechtsteile und Menschenfeindlichkeit.

SPIEGEL ONLINE: Mr. Marcks, was hat es mit der Uhrzeit im Titel auf sich?

Marcks: Das hat sich bei mir über die Jahre zu einem gewissen Aberglauben verfestigt. Diese Nummer scheint mir ominös - immer wenn etwas Übles passierte, zeigte eine Uhr diese Zahl. Schließlich sieht man sie überall - in Hotelzimmern, auf Schecks, und so weiter. Vielleicht nur ein Zufall, vielleicht ein Omen, mein Gehirn jedenfalls schien irgendwann programmiert, davon Notiz zu nehmen, und als ich dieses Drehbuch schrieb, hing mir diese Zahl als Prophet unglücklicher Umstände im Hirn. Für mich war sie das perfekte Symbol von sinnlosem Sinn. Das menschliche Gehirn ist eben so verdrahtet, dass es in allem Sinn finden will - was wiederum die Grundlage fürs Geschichtenerzählen ist.

SPIEGEL ONLINE: Als Sie diese Geschichte schrieben, erhielten Sie ein lukratives Angebot für das Drehbuch. Sie lehnten ab. Warum?

Marcks: Die Produktionsfirma Lions Gate machte mir ein Angebot, aber ich wollte selbst Regie führen und habe mich nach längerem Nachdenken entschlossen zu passen. Ich dachte, wenn die so an diesem Projekt interessiert sind, kann ich vermutlich jemanden finden, der den Film mit mir als Regisseur finanziert.

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie als Anfänger in Hollywood mit so viel Eigensinn nicht ziemlich hoch gepokert?

Marcks: Ja, ziemlich. Heute sieht's im Rückblick natürlich gut aus, weil es funktioniert hat. Aber wenn jemand mich dazu beglückwünscht, sage ich immer: Unter anderen Umständen würde ich dir jetzt raten, das Geld zu nehmen und zu gehen, denn es hätte ebenso gut schiefgehen können. Ich glaube aber, dass diese ganze Industrie eigentlich mehr Zocker gebrauchen könnte. Und dieser Film ist eh von Beginn an ein einziges Spiel, warum sollte ich das Ganze also nicht gleich durchziehen? Ich hätte ihn vermutlich nicht geschrieben, wenn ich ein konservativer Typ wäre. Und ich fand, ich müsste diese Geschichte selbst erzählen, weil sie so sehr mit meiner persönlichen Lebensperspektive und meinem Hintergrund verknüpft war.

SPIEGEL ONLINE: Inwiefern?

Marcks: Er reflektiert sehr stark meine Haltung in dieser Zeit. Ich war damals wütend auf die Filmindustrie, weil ich fand, dass sie Lügen verbreitet - alles wird immer gut, Menschen sind nett und so weiter. Während ich dachte: Stimmt doch gar nicht! Leute sind nicht immer nett, die Dinge, die sie sagen, sind oft nicht wahr, und nichts funktioniert einfach so. Mein Gefühl war, dass man in diesem Universum herumgeschubst wird, eher zufällig und ohne allzuviel Anteilnahme anderer Mächte. Es war beinahe Nihilismus.

SPIEGEL ONLINE: Beinahe?

Marcks: Ja, denn für mich existiert noch eine humorvolle, ironische Komponente im Universum - wenn es so was wie ein Mitgefühl gibt, dann als eine Art ungläubiges Grinsen. Scheiße passiert, aber man muss auch drüber lachen. Ich suchte also für diesen Film nach einer narrativen Struktur, die das vermitteln könnte, jenseits des klassischen glücklichen oder tragischen Endes. Ich wollte eine Art sinnlosen Sinn, also baute ich eine Struktur, die für sich nicht viel bedeutet, aber in ihrem eigenen Kontext schließlich doch Sinn erzeugt. Diese Struktur hat ihre Vorteile, weil man eine gewisse Distanz zu den Figuren wahrt und die Figuren untereinander auch - die meisten schweben einfach durch diese dunkle, leere Welt.

SPIEGEL ONLINE: Mit Hilary Swank, Patrick Swayze und Barbara Hershey haben Sie eine ansehnliche Besetzung zusammenbekommen. Wie ist das gelungen?

Marcks: Man muss das Blatt spielen, das man bekommt, und ich glaube, ich habe ein ziemlich gutes Blatt erhalten. Hilary Swanks Figur zum Beispiel war eigentlich männlich, aber sie wollte sie darstellen. Ich hätte nein sagen können, aber ich bin ihr gefolgt. Am Ende ist das Ganze eine Kombination aus Talent, Glück, Timing und Persönlichkeiten.

SPIEGEL ONLINE: Eine Ihrer Figuren muss mit dem Verlust ihres Penis zu Rande kommen. Woher diese drastische Horrorphantasie?

Marcks: Vieles in dem Film basiert auf meinen eigenen Erfahrungen - ich habe zwar nicht meinen Penis verloren, aber ich habe mir mal einen Vorderzahn ausgeschlagen. In dieser Sekunde wird einem klar, dass die Dinge nie wieder so sein werden wie zuvor. Und der Penis ist ja nun mal wichtiger Bestandteil des männlichen Selbstbewusstseins. Und weil es so unvorstellbar ist, ist es auch sehr komisch. Mir ist übrigens nie in den Sinn gekommen, dass das auch ein Tabu ist. Irgendwie dachte ich, wenn dieses Organ nicht mehr an dem dazugehörigen Körper hängt, verliert er seine Anstößigkeit. Erigierter Penis - das ist schwierig, aber ein abgetrennter Penis für sich, der kann doch eigentlich für niemanden eine Bedrohung darstellen.

SPIEGEL ONLINE: Ihr Film ist 2003 auf zahlreichen Festivals gelaufen, seither liegt er in der Schublade, und in den USA kommt er nur auf DVD heraus - hat das auch mit dem Penis zu tun?

Marcks: Nicht direkt, glaube ich. Ich würde zwar gern denken, dass das der Grund ist, aber in Wirklichkeit sind das die Realitäten der Filmvermarktung.

SPIEGEL ONLINE: Auch deswegen tummeln sich die besten Autoren Hollywoods derzeit im Fernsehen, wo weit mehr Kreativität und Innovation möglich scheint. Reizt Sie das auch?

Marcks: Ja. Filmemachen ist so aufwendig und teuer geworden, dass der Spielraum zum kreativen Experimentieren hier entscheidend geringer ist. Tatsächlich werde ich in diesem Jahr eine Fernsehserie präsentieren, aber ich habe das Gefühl, dieses Medium nicht gut genug zu kennen. Filme verhandeln ein bestimmtes Thema, Fernsehen dreht sich dagegen um Figuren und ihre Beziehungen zueinander, komisch oder tragisch. Das ist für mich weniger greifbar.

SPIEGEL ONLINE: Was reizte Sie eigentlich ursprünglich an der Filmemacherei?

Marcks: Ich habe in der Highschool Videos gedreht und hatte eine Comedyshow. Es war mir zwar ernst damit, aber vor allem war es ein kreatives Ventil. Aber als ich ins College kam, geriet ich in diesen Filmclub, die hatten eine 16-Millimeter-Kamera. Als ich durch den Sucher blickte und die Blende schließen sah, verliebte ich mich. Durch diese Kamera zu gucken war, als würde ich mir Material aus den Zwanzigern über das Leben heutzutage anschauen. Und ein Stück von mir ist ein begeisterter Historiker und Konservator. Film ist so ein wunderbares Medium, weil es die Erinnerungen einer Zeit bewahrt - auch wenn es nur die fiktionalisierte Version dieser Erinnerungen ist. Ich finde das einen sehr privilegierten Beruf. Seither habe ich eigentlich nie mehr zurückgeschaut.

Das Interview führte Nina Rehfeld
(www.spiegel.de)


"Wenn etwas klappt, ist es meistens nur Glück. Deshalb sollte man nie zuviel Ahnung von einer Sache haben" (alte japanische Programmiererweisheit)

Neulich im Waschsalon:
"Nachdem mir bereits "Network" sehr gut gefallen hat, gewinne ich langsam wirklich Respekt vor Sidney Lumet."
"Du unnützer nichtsbringender mittzwanziger Fliegenschiss bekommst "langsam" Respekt vor Sidney Lumet?"
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