Vorsicht, diese Kritik könnte Spoiler enthalten.
"Von der französischen Revolution zu den Wochenenden der UNR"
Die UNR (Union des démocrates pour la République) war eine stark durch General de Gaulle geprägte bürgerliche französische Partei, in etwa mit der CDU oder der früheren Zentrumspartei zu vergleichen. Der heutige Nachfolger dieser Partei ist die RPR (Rassemblement Pour la République), der auch Jaques Chirac angehört. Man merkt es schon, es ist ein sehr politisierender Film. Die Fülle an Metaphern und Anspielungen ist enorm, und erweitert sich bei jeder weiteren Betrachtung dieses Filmes. Auf der anderen Seite ist auch die bildliche Gewalt (wie es sich für einen Nouvelle-Vague-Film gehört), die zeitweise an Kunstwerke der Pop-Art oder (zumindest von den absolut kranken Schnitten her) New-Hollywood-Filme wie "Bonnie und Clyde" oder "Easy Rider" erinnert sehr beeindruckend.
Der Inhalt soll jedoch den Kernpunkt dieser Kritik bilden:
Corinne und Roland, ein gewohntes Ehepaar, wollen am Wochenende ein lustiges Familentreffen veranstalten. Jedoch werden sie durch apokalyptische, revolutionsähnliche Zustände, sowie zahlreicher Streitereien und nicht zuletzt einer kannibalistischen Terrororganisation an diesem Vorhaben gehindert...
Wer nun denken mag, dieser Film sei inhaltsarm, der irrt, und zwar ganz gewaltig.
Es handelt sich hierbei um eine radikale, man könnte fast sagen größenwahnsinnige Gesellschaftssatire und gleichzeitig eine politische Parrabel.
Jedes einzelne Wort, dass in diesem Film gesprochen wird, abgesehen von dem Exkurs in die sexuellen Erfahrungen der Hauptdarstellerin am Anfang des Filmes (ich weiß, diese 10-Minütige Szene ist schwiergig, da das Orchester de besten Ausführungen übertönt), enthält entweder eine Metapher, eine politische Botschaft, ist als Anspielung oder aber als sarkastische/ironische Verhöhnung zu verstehen. ich muss an dieser Stelle einräumen, dass mir die Biografie des Jean-Luc Godard nicht allzu bekannt ist. Trotzdem muss ich die Frage stellen: Wie krank kann man sein, solch einen irren Film zu drehen?
Es sind (zumindest für den ein oder anderen) einige Anspielungen auf andere Nouvelle-Vague-Klassiker zu erkennen. Zum Beispiel, als Roland anmerkt, seine Eltern seien "wirklich zum kotzen", fühlte ich mich an "Außer Atem" erinnert. Behauptet Godard etwa, in diesem Sinne eine neue Generation geschaffen zu haben? An einer anderen Stelle heißt es übrigens "Dieser Film ist zum kotzen".
Eine andere wichtige Assoziation, die ich an einer anderer Stelle hatte, findet in der, meiner Meinung nach, Schlüsselszene dieses Filmes statt:
Corinne und Roland, die zu diesem Zeitpunkt übrigens gestehen, dass sie wissen, dass sie Teil eines Filmes sind, treffen in einem Wald auf Emily Brontë (britische Autorin, *1818, +1848, bekanntestes Werk: "Sturmhöhe (Wuthering Heights)", um sie nach dem Weg zu fragen. Als sie stattdessen Rätsel (die sich letzen Endes auf die beiden Protagonisten selbst beziehen) aufstellt, wird sie von Roland verbrannt. Ich fühlte mich plötzlich und unerklärlich an Truffauts "Fahrenheit 451" erinnert...
Als Emily vor sich hinbrennt, hetzt ihr Begleiter gegen die Macht der Filmproduzenten und endet mit dem Satz:
"Ich überlegte mir, was ich ihnen sagen sollte, und dann entschließ ich mich, ihnen folgendes zu sagen..."*Schnitt*
Was nun folgt, ist der absolute Wahnsinn, aber ich sollte wohl nicht zuviel davon verraten...

Dieser Film ist (meiner bescheidenen Meinung nach) als Statement, als sehr, sehr politisches Statement eines zu diesem Zeitpunkt sehr gerne politisierenden und von der Filmindustrie sichtlich enttäuschten Jean-Luc-Godard zu verstehen, der das ganze jedoch nicht wirklich ernsthaft, sondern vollkommen überzogen, als Parodie einer sich selbst verachtenden Gesellschaft über die Bühne bringt:
"Man kann die Scheusslichkeit der Bourgoisie nur mit noch mehr Scheusslichkeit überwinden."
Andererseits wird ohne Skrupel auf das Christentum eingeprügelt:
"Das Christentum ist die Weigerung der Selbsterkenntnis. Es ist der Tod der Sprache".
Die Protagonisten, miteinander verheiratet, hassen sich förmlich. Wenn die Ehefrau von einem Dritten vergewaltigt wird, interessiert es nicht einmal den anwesenden Ehemann, dessen Tod sich die Ehefrau seit Anbeginn des Filmes herbeisehnt. Der Tod der Eltern wird, entgegen der 10 Gebote noch viel mehr herbeigesehnt. Allerdings, und das widerspräche womöglich der Weltanschaung Godards, wird Jesus hier als der größte Kommunist benannt.
Nächstenliebe scheint hier ein absolutes Fremdwort zu sein. Gleichgültig verfogen die Charaktere, dass ihre Mitmenschen auf der Straße verrecken. Andere speisen, angelehnt an einen Mülltransport, ohne dass ihnen der Gestank den Appetit oder gar die Lust an politischen Diskussionen verdirbt:
"Bezogen auf die Gesamtheit meines Sandwiches habe ich ihnen genau das abgegeben, was die USA an Kongo abgeben, bezogen auf die Gesamtheit des amerikanischen Haushalts."
Dieser Film sagt mehrmals das Ende des grammatikalischen Zeitalters (der Nouvelle Vague?), das Ende des Films vorraus. Godard verhöhnt sich selbst als Wegbereiter dieser Phase des französichen Filmes ("ein Film der auf dem Schrotthaufen gefunden wurde, ein Film der sich im Kosmos verliert"). Ein Charakter aus diesem Film, ein einfacher Verbrecher lässt hingegen scheinbar hoffen:
"Ich bin da, um der Welt das Ende des grammatikalischen Zeitalters zu verkünden, und einen glänzenden Anfang zu verkünden, auf allen Gebieten, vor allem im Film". Sollte es sich hierbei etwa um eine Personifizierung Godars selbst handeln? Versucht er etwa, mit diesem Film eine Revolution auszulösen (es wird sogar die Internationale angespielt:"Wacht auf, Verdammte dieser Erde...")? Will er mit seinen krassen Beispielen auf die "Scheusslichkeit der Bourgoisie" hinweisen ("Er war jung, er war schön, er war reich, also hatte er die Vorfahrt vor allen, vor den Dicken, vor den Armen, vor den Alten")? Zuzutrauen wäre es ihm vielleicht, und wie ich finde hat er es, sollte er diese Intentionen tatsächlich gehabt haben, sogar sehr gut gemacht. Mit ein wenig Übertreibung und Hochmut könnte man behaupten, er war derjenige, der die Pariser Studentenunruhen von 1968 verursacht habe. Seht euch diesen Film an und denkt darüber nach!
Ich schließe mit einem sehr beeindruckenden Zitat vom Ende dieses Filmes:

"Ich beabsichtige, das ernsthafte Gedicht, dass ich ihnen zu Gehör bringen werde ohne innere Anteilnahme zu deklamieren. Achte auf seinen Inhalt und hüte dich vor dem peinlichen Eindruck, den es unweigerlich hinterlassen wird. Ein Schandmal in euren irren Phantasien. Glaubt nicht, dass ich am sterben bin, denn der Hauch des Alters hat nicht meine Stirn geschweift. Schiebt es wegen jedem Gedanken an einen Vergleich mit dem Schwarn beiseite, dessen Leben im Begriff ist, davonzufliegen. Und seht vor euch nur ein Ungeheuer, dessen Gesicht ihr glücklicherweise nicht sehen könnt, obwohl es weniger gräßlich ist, als seine Seele. Dennoch bin ich kein Verbrecher. Aber genug jetzt von diesem Thema. Alter Ozean, zum ersten Mal, wenn man deiner ansichtig wird, weht ein langezogener Atem von Traurigkeit vorbei, den man für das Säuseln deiner sanften Brise halten könnte, und er lässt dabei unauslöschliche Spuren in der zutiefst erschütterten Seele zurück.
Du erinnerst an das Andenken deiner Liebhaber, ohne dass man dessen gleich gewahr wird, an die rauhen Anfänge des Menschen, wo er Bekanntschaft schloss mit dem Schmerz, der ihn nie wieder verließ.
Ich grüße dich, alter Ozean!
Ich vermute, der Mensch ist nur aus Eigenliebe überzeugt von seiner Schönheit, aber ich glaube, dass er nicht tatsächlich schön ist, und dass er sich dessen bewusst ist, denn weshalb schaut er mit so viel Verachtung in das Gesicht seinesgleichen?
Ich grüße dich, alter Ozean!
Alter Ozean, ich habe mich oft gefragt, was leichter auszuloten sei: Die Tiefe des Ozeans oder die Tiefe des menschlichen Herzens. Es wird mir erlaubt sein, zu sagen, dass der Ozean, trotz seiner ungeheuren Tiefe, was den Vergleich dieser Eigenschaft angeht, mit der Tiefe des menschlichen Herzens nicht mithalten kann. Die Psychologie hat noch viele Fortschritte zu machen!
Ich grüße dich, alter Ozean!
Alter Ozean, du wogst inmitten eines Mysterienspiels auf der erhabenen Oberfläche deiner unvergleichlichen Wellen, in dem ruhigen Bewusstsein deiner ewigen Macht. Deine moralische Größe, Abbild des Unendlichen, ist unermesslich wie das Nachdenken des Philosophen, wie die Liebe einer Frau, wie die göttliche Schönheit des Vogels.
Antworte mir, alter Ozean!
Willst du mein Bruder sein?
Ich kenne dein geheimnisvolles Schicksal nicht, aber alles, was dich betrifft, interessiert mich. Sag mir also, ob du die Heimat des Prinzen der Finsternis bist, sag es mir, sag es mir Ozean, du musst es mir sagen. Denn ich würde mich freuen, die Hölle so nah bei den Menschen zu wissen, daher will ich dich noch ein einziges Mal grüßen und dir meinen Abschiedsgruß entbieten, alter Ozean!
Ich habe nicht die Kraft fortzufahren, denn ich fühle, dass der Moment gekommen ist, wieder unter die Menschen mit den brutalen Gesichtern zu gehen. Aber Mut, haben wir also keine Angst, geben wir uns große Mühe und erfüllen wir mit Pflichtbewusstsein unser Geschick auf Erden.
Ich grüße dich, alter Ozean!"
Die französiche Revolution, durch die Ausführungen Voltaires und Rousseaus bereits frühsozialistisch geprägt, wird hier nicht nur genannt. Ihre Farben (blau-weiß-rot) kommen hier ebenso oftmals vor. Ein weiteres Zitat aus diesem Film passt hervorragend zu dieser Thematik und damit werde ich endgültig schließen:
"Ist das der Weg nach Versailles?"
Ich kann diesen Film nur dringend weiterempfehlen und halte es für eine Schande, dass es ihn nicht auf DVD zu kaufen gibt. Ein absolutes Meisterwerk!